Zwei Euro.
Ich bin eine von zwanzig Hartz-IV-Empfängern und Empfängerinnen, die von der Agentur für Arbeit auserwählt wurden. Nach 167 Bewerbungen als ausgebildete und erfahrene Arbeitspädagogin bin ich frei von Illusionen und der bösen, großen Sechzig wieder eineinhalb Jahre näher.

Stellen Sie sich einen Raum vor, im Untergeschoss eines Amtsgebäudes. Zwischen Hintereingang und Lieferantenaufzug befindet sich ein hell gekachelter Raum von ungefähr vier mal drei Metern, unbeheizt, heizen lohnte nicht, da die Türen im Durchgangsbereich ohnehin ständig geöffnet sind, dafür mit grellem Neonlicht. In der Mitte des Raumes stehen vier Tische sowie neunzehn Stühle.

Es ist viertel vor elf, der Geräuschpegel lebt vom schrillen Gelächter zweier fettleibiger Damen, die sich feixend über mich lustig machen, als ich für einen Moment mein Buch mit dem Cover nach oben vorsichtig am äußeren Rand des Tisches am Rand platziere und nach meiner Kaffeetasse greife. "Guckma, die liiiiiest 'n Buch!!! ...se...frong...määähn. Der...was heißtn 'frong'...dat is' doch bestimmt nich' jugendfrei, und dann au' no' Englisch!" Die linke wiehert gackernd. Ich bin erstaunt, dass sie das Buch als solches erkennt und erdolche sie mit einem Blick, bevor ich wieder versinke im Teppich der Töne aus den Stöpseln, die mein Trommelfell vor niederen Witzen, "f*cken, b*msen" und anderem Wortmüll, der durch den Raum wabert, schützen und Valium für meine Nerven liefern sollen, so dass, als mich jemand von hinten anrempelt, heftig erschrecke. "Ey. Da sitz ich!" Kommentarlos stehe ich auf, mein Buch, meine Musik und ich leihen am anderen Ende des Raumes Platz. Keine drei Seiten später tippt mich jemand an. Ich ziehe die Stöpsel aus den Ohren und bekomme den letzten Rest eines Gesprächs zwischen einem kahlgeschorenen Enddreißiger mit schlechten Zähnen und noch schlechterem Mundgeruch und der braungetoasteten Blondine mit, die seit ihrem Auftritt bei Frauentausch in dieser illustren Gesellschaft ein Star ist. "Die zwei sind bestimmt irgendwohin inn Wald. Wenn sie gleich so kommt", sie latscht breitbeinig durch den Raum, "dann wissen wir ja Bescheid." Minutenlanges Gelächter erschüttert den Raum. Ich setze gerade an, mich fremdzuschämen, komme aber nicht weiter dazu, weil ich in diesem Moment zu einem persönlichen Gespräch unter vier Augen nach draußen gebeten werde. "Endlich jemand, der diesem Zirkus ein Ende bereitet", kann ich gerade noch denken, da habe ich schon den erhobenen Finger der personifizierten ARGE beinahe in der Nase. "So geht das aber nicht", schrillt sie nachdrücklich, "Sie können hier nicht einfach lesen." "Nicht?", denke ich, "seien Sie doch froh, dass hier überhaupt jemand lesen..." "sie Sich doch wenigstens die BILD oder setzen sich dazu und spielen mit." "Mitspielen?", denke ich, "ist das alles ein Spiel?" "...my-Cup, das kann doch jeder." "Mhm," denke ich, werde erneut unterbrochen, "die denken sonst, Sie wären etwas Besseres." Ich mustere die andere ausgiebig. Sie schweigt erwartungsvoll, kräuselt pikiert die Lippen. "Sie wissen, dass Sie diesen 2-Euro-Job nicht kündigen können", sagt sie herablassend, "war das eine Frage?", frage ich mich, sie fügt hämisch hinzu "dann gibt's nämlich gar kein Geld mehr." Ich werde bleich vor Schreck, "das war der letzte Ausweg, kündigen, einfach nicht mehr hingehen und auf die 160 Euro verzichten! Was soll ich jetzt tun?" Sie lächelt, als sie meinen Schock registriert und erlaubt huldvoll "Sie können gehen." Innerlich bebend kehre ich ruhig zu meinem Platz zurück. Seniorenbetreuung, so wurde mir gesagt, und nun saß ich hier, wartete auf Senioren, die betreut werden wollten. Ich sah mich in der Runde um, "uuuund der Alte stinkt nach P*sse, Du, ich sach's Dir", die Dürre mit den Raucherfalten und runzelte den Bauch, den das knapp busenlange Shirt trotz Fehlen selbiger nicht zu verdecken vermag, "ja, da kannsde schommma Pech haben mit die alten Säcke", entgegnet die andere, "meiner is süüüß. Wenn der H*tler Geburtstach hat, baut der sein Regiment aufm Küchentisch auf, der Oppa, nich' der Add*lf, aber, mein Gott, was solla auch sons' tun!" Ich unterdrücke akuten Brechreiz, nehme meine Tasse und schlendere beiläufig hinaus. "Möchte noch jemand Kaffee?" Da ich in diesem Raum keine Stimme habe, werde ich, wie erwartet überhört und begebe mich zügig nach draußen. Auf der Toilette packt mich ein Heulkrampf.

Zwei Euro, soviel kostet die Seele.

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